Gently Radical
Innenarchitektur zwischen Radikalität und Sanftheit
CUBE: Der Titel Ihres kürzlich erschienenen Buches ist „Gently Radical“. Das klingt wie ein Paradoxon. Was steckt hinter diesem Titel?
Fabian Freytag: Paradox soll es auch sein, weil wir bei dem, was wir täglich tun, immer gegensätzlich arbeiten, dadurch Spannung kreieren und auch Dinge zusammenbringen, die vermeintlich nicht zusammengehören. Das, was Architektur teilweise zu radikal betreibt, muss meines Erachtens immer das Lächeln haben, diese menschliche Komponente, das Freundliche, das Zugängliche, die Neugierde, dass ich den Raum entdecken möchte. Dieser sollte vor allen Dingen nicht exklusiv sein, sondern inklusiv. Ich möchte das Gefühl provozieren, partizipieren zu können, den Raum benutzen zu können und das funktioniert mit Gegensätzen und auch mit Imperfektion.
Was kann man aus Ihrem Buch über Räume und Design hinaus mitnehmen?
Design ist überall, nicht nur im Museum oder im Showroom. Wir treffen täglich gestalterische Design-Entscheidungen. Selbst wenn wir uns eine Stulle schmieren. Ich möchte die Menschen dazu ermutigen, bewusster hinzusehen und zu reflektieren, was ein Raum mit ihnen macht. Welches Gefühl löst er aus? Und das fängt beim Italiener an der Ecke an, zu dem ich abends gehe und mich frage: Was wirkt in diesem Raum auf mich? Was mag ich daran, was mag ich nicht?
Haben Sie eine Methode, wie man seine eigene Wahrnehmung für Design schärfen kann?
Eine sehr gute Übung ist, sich durch eine Online-Plattform zu klicken, zum Beispiel eBay Kleinanzeigen, und auf diese Weise die kleine Designschule zu durchlaufen. Man schaut sich einfach am Nachmittag 100 Stühle an und fragt sich: Welche Stühle würden zu meinem Leben oder zu meinem Gefühl passen? Da kommt man auf erstaunliche Antworten, weil man anfängt in dem Design Narrative zu entwickeln, Geschichten zu sehen, denn hinter jedem Vintagestuhl verbirgt sich ja irgendwie auch eine Geschichte. Wenn dieser aus den 90ern ist, dann hat das wieder mit Folgendem zu tun: Was habe ich in den 90ern gemacht – wenn ich dann schon geboren war – welche Assoziation habe ich mit dem Jahrzehnt? Wenn wir mit Kunden sprechen, geht es in der ersten Phase häufig um Assoziation. Schlagen wir beispielsweise eine gepolsterte Eckbank vor, dann sagen ganz viele: Oh nein, das erinnert mich an meine Oma. Das kann eine gute Erinnerung sein, das kann aber auch eine schlechte Erinnerung sein. Oder wenn man eine neue Wohnung oder ein Haus bezieht, sich hineinsetzen und mal wirklich eine halbe Stunde einfach durch den Raum blicken. Was sieht man, was hört man, was riecht man? Das hört sich alles immer so esoterisch an. Aber das ist das, woraus sich Wohnen zusammensetzt: Das sind Gefühle, die wir unterschwellig wahrnehmen. Dadurch entstehen auch Antworten für den Raum. Wenn ich zum Beispiel eine Geräuschbelastung in mittelbarem Umfeld habe, dann muss ich dafür sorgen, dass ich mehr Stoffe im Raum habe oder mehr weiche Oberflächen. Wenn ich mich auf dem „flachen Land“ befinde, kann ich eher in einem White Cube denken, der viel puristischer ist und wenige Möbel braucht. Das ist viel mehr Gefühl als Wissenschaft.
Man sagt über Sie, dass Sie Räume in wahre Kunstwerke verwandeln. Woher wissen Sie, wann ein Raum „fertig“ ist?
Es ist wie in der Kunst – man spürt es. Ich neige dazu, länger zu arbeiten als andere, weil ich es gut finde, den Zuschauer ein bisschen zu überfordern. Denn ein guter Raum erzählt mehrere Geschichten, ähnlich wie ein Film mit verschiedenen Erzählsträngen. Natürlich muss man irgendwie im Auge behalten, dass es keine 100 Geschichten werden.
Wenn Sie einen Raum für eine prominente Persönlichkeit gestalten könnten, wen würden Sie wählen?
Ich habe in den vergangenen Tage viel verfolgt, was auf der politischen Weltebene passiert. Was mir dabei unterschwellig auffällt, ist, dass Politik in sehr hässlichen Räumen stattfindet, das ist speziell ein deutsches Problem. In dem Chefbüro steht in diesem riesigen Raum, der für sich sehr schön ist, eine verloren wirkende Sitzgruppe vor der Wand, die überhaupt nicht dem Raum gerecht wird, und dann denke ich: Warum ist das so, warum kann es nicht einfach cool sein? Deswegen sage ich, ja, Fabian Freytag wünscht sich nach der Bundestagswahl das Büro des nächsten Bundeskanzlers zu gestalten, das würde mich freuen.
Gibt es einen Traum oder ein Projekt, das Sie unbedingt verwirklichen wollen?
Das Studio ist Schritt eins, aber dass man daneben auch das Produzieren mitabdeckt, das wäre das, was ich als nächstes angehen möchte. Wenn ich Fabian Freytag in zehn Jahren sehe, dann hätte ich gerne irgendwo eine Werkstatt, in der Stadt oder am Rande der Stadt an einem schönen Ort, wo sämtliche Kerngewerke vereint sind, wo Architektur, Innenarchitektur und Handwerk zusammenkommen.
Verraten Sie uns wie Sie selbst wohnen?
In einer alten Remise in einem Hinterhof in Berlin-Mitte, mit viel offenem Backstein und einer Sichtbeton-Decke. Ich musste sie während Corona einrichten und so bin ich eigentlich ein bisschen zu meiner Theorie gekommen, weil alle Produktionsstätten geschlossen hatten und man nichts bestellen konnte. Über eBay Kleinanzeigen konnte ich im Umfeld von 15 Kilometern Tische und Stühle beziehen und dadurch entstand ein lebensbejahender, eklektischer Einrichtungsstil, der mich jeden Tag aufs Neue freut, weil man daher immer durch die Räume geht und die Geschichten dahinter noch im Kopf hat. Man findet meine Wohnung übrigens auch online.
Herr Freytag, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Katharina Beitl.
Hören Sie das gesamte Interview, das hier als Auszug veröffentlicht ist, als Podcast.